Schach-Held Nepomnjaschtschi: Auf Distanz zu den Kremltürmen
Astana (dpa) – Die Schach-WM in Kasachstans Hauptstadt Astana zwischen Jan Nepomnjaschtschi und Ding Liren aus China geht in die entscheidende Phase und wird in Moskau aufmerksam verfolgt – auch im Kreml.
Nach elf Partien steht es 6:5 für den Russen, dem nur noch 1,5 Punkte zum Sieg fehlen, viele Zeitungen berichten täglich. Zumindest nach außen hin demonstriert der Kreml Unterstützung für den Großmeister aus Brjansk.
Regierungssprecher Dmitri Peskow – zugleich Leiter des Kuratoriums im russischen Schachverband – bedauerte nach dem Sieg Nepomnjaschtschis im Kandidatenfinale im vergangenen Sommer die Absage von Norwegens Weltmeister Magnus Carlsen, seinen Titel zu verteidigen. Man werde trotzdem mit dem Russen «mitfiebern» und auf die Rückkehr der Schachkrone nach Russland warten, sagte Peskow.
Die Schach-Nation Russland wartet seit der Niederlage von Wladimir Kramnik 2006 auf den WM-Titel. Die russische Führung nutzt gern sportliche Erfolge, um ihr Image aufzubessern. In Zeiten, in denen viele russische Sportler von internationalen Wettkämpfen ausgeschlossen sind, kommt ein möglicher Weltmeister da gerade recht.
Nepomnjaschtschi unterzeichnet Antikriegspetition
Doch ausgerechnet Nepomnjaschtschi ist für viele Patrioten nicht der richtige Kandidat. Zwar war der zweimalige russische Meister lange Zeit völlig unpolitisch und ist nie annähernd so scharf gegen den Kreml aufgetreten wie sein berühmter Landsmann und Ex-Weltmeister Garri Kasparow. Vor einem Jahr jedoch, als Russland seinen Angriff gegen die Ukraine losbrach, schrieb Nepomnjaschtschi in sozialen Netzwerken vom «schwärzesten aller Donnerstage» und «Wahnsinn».
Als einer aus einer Gruppe von 44 russischen Schachspielern und Schachspielerinnen unterzeichnete er eine Antikriegspetition. «Wir sind gegen die Kriegshandlungen auf dem Gebiet der Ukraine und rufen zur schnellstmöglichen Einstellung des Feuers und einer friedlichen Lösung des Konflikts durch Dialog und diplomatische Verhandlungen auf», hieß es in dem offenen Brief an Präsident Wladimir Putin.
Den Krieg selbst bezeichneten die Unterzeichner als «Katastrophe». Die Obrigkeit reagierte schnell und unterdrückte die weitere Unterschriftensammlung. Viele der Schachspieler sind inzwischen ausgereist. Nepomnjaschtschi dürfte einzig sein Erfolg vor Repressionen geschützt haben.
Doch der 32-Jährige ist allenfalls geduldet, nicht aber geliebt. Bis zum Krieg hing so in seiner Heimatstadt Brjansk ein Banner mit seinem Konterfei neben denen von anderen Sportlern aus der Region an den Wänden des Dynamo-Stadions. «Unser Stolz», stand drauf. Im Sommer wurde das Plakat dann gegen ein Bild der Kampfsportlerin Olga Koroljowa ausgetauscht. Offenbar war der Stolz dahin.
Russische Schach-Großmeister reden kein Wort miteinander
Viele Politiker in Moskau hätten ganz offensichtlich lieber den von der annektierten Krim stammenden ehemaligen WM-Herausforderer Sergej Karjakin in Astana gesehen. Immerhin schrieb dieser gleich zu Beginn des Krieges einen Brief zur Unterstützung der russischen Invasion. Doch während Karjakin dafür im Kreml mit einem Orden ausgezeichnet wurde, entzog ihm der Weltschachverband FIDE wegen dieser Äußerung für ein halbes Jahr die Spielerlaubnis. Der einstige Herausforderer von Noch-Weltmeister Carlsen und ehemalige Ukrainer verpasste das Kandidatenturnier.
Seither reden die beiden russischen Schach-Großmeister kein Wort mehr miteinander. Karjakin intrigiert gegen seinen Rivalen und lässt auch als WM-Kommentator kein gutes Haar an ihm. Das hat Folgen für Nepomnjaschtschi. So gibt es inzwischen ernsthafte Reibereien mit dem russischen Schachverband. Verbandschef Andrej Filatow stichelte während des WM-Matches, dass «Nepo», wie er in der Szene genannt wird, in schlechten Momenten an einen «Affen mit einer Handgranate» erinnere. Der Funktionär spielte damit auf die teilweisen Aussetzer während der Serie an, in der der Russe von den ersten sieben Partien zwar drei gewann, aber auch zwei verlor.
Dabei dürfte auch Filatow klar sein, dass solche Scharmützel während eines WM-Duells der Konzentration schaden. Das Team Nepomnjaschtschis reagierte entsprechend scharf auf die Aussagen des Verbandes, der «den Worten nach hektische Betriebsamkeit und volle Unterstützung vortäuscht, tatsächlich aber unserem Team Steine in den Weg legt». Einmal angekommen bei den Tiervergleichen bezeichneten Nepomnjaschtschis Helfer Verbandschef Filatow wegen seiner Wandlungsfähigkeit vom Unterstützer zum Kritiker und zurück als «Chamäleon».
Obwohl die Spannungen daheim offensichtlich zunehmen, will Nepomnjaschtschi Russland nicht verlassen. «Regt Euch nicht auf, ich bin noch nicht ausgereist und hofft nicht darauf, dass ich es tue», zitierte er jüngst den bei vielen Russen als Rebellen verehrten Sowjetbarden Wladimir Wyssozki. Doch um der zunehmenden Verfolgung von Andersdenkenden noch eine Weile zu entgehen, muss er wohl mindestens den WM-Titel mit nach Hause bringen.
Dort schauen auch die zahlreichen Schach-Liebhaber im Land zu. «Keine Partie, sondern ein Thriller, ich empfehle sehr, sie sich anzugucken», meinte zum Beispiel Alexander nach der turbulenten achten Partie, in der Nepomnjaschtschi ein Remis halten und damit seine Führung behaupten konnte.
Alexander ist Barmann in Moskau – und leitet nebenbei eine Chatgruppe von Hobby-Schachspielern. Jeden Abend treffen sich einige der zumeist männlichen Clubmitglieder in der Bar, um bei Bier und Wodka ein bisschen Schach zu spielen. Das Niveau der Partien ist gering, der Stolz auf den Landsmann hingegen hoch. «Wir drücken ihm die Daumen», sagte Andrej, einer der Gäste des Clubs. Das sei patriotische Pflicht, stimmte Alexander ihm zu.