Olympische Gold-Hoffnung Varfolomeev zwischen Druck und Spaß
Paris (dpa) – Darja Varfolomeev schwingt das Bein und wie vom Katapult geschleudert saust der goldene Reifen bedenklich nah an den Videowürfel unter der Hallendecke heran. Am Tag vor ihrem olympischen Debüt hat die Fünffach-Weltmeisterin aus Schmiden die Höhe der Arena Porte de La Chapelle bei Trainingsübungen ausgetestet. «Es war eigentlich ganz gut. Die Halle ist sehr gemütlich. Ich mag die lila Farbe», gab die 17-jährige Rhythmische Sportgymnastin ihre ersten Eindrücke wieder.
Seit die gebürtige Russin im vergangenen Jahr als Erste seit Jewgenija Kanajewa (Russland) 2011 alle WM-Titel mit den vier Geräten Band, Reifen, Keulen und Ball sowie in der einzigen olympischen Entscheidung Mehrkampf gewonnen hat, ist sie im Deutschen Turner-Bund (DTB) die größte Gold-Hoffnung in Paris.
Die Weltmeisterschaften seien inzwischen weit weg und die Olympischen Spiele ein ganz neuer Wettkampf, meinte Varfolomeev. «Ich fühle mich vorbereitet. Wir haben richtig gut trainiert. Mein Ziel ist es, vier Übungen gut durchzuturnen», betonte sie.
«Wir fühlen uns bereit»
Bei den deutschen Meisterschaften Anfang Juni in Frankfurt/Main war ihr dies noch nicht gelungen. Nach Hinweisen von Kampfrichtern hatte sie gemeinsam mit ihrer Trainerin Yuliya Raskina die Übungen verändert und mangels Routine fehlerhaft geturnt.
So verlor Varfolomeev ihren Mehrkampf-Titel an die Potsdamerin Margarita Kolosov, die als zweite deutsche Gymnastin am Donnerstag in der Qualifikation für das Finale am Freitag antritt. «Wir haben noch mehr trainiert. Wir fühlen uns bereit», bekräftigte sie.
Die Rhythmische Sportgymnastik ist seit 1984 in Los Angeles im olympischen Programm. Damals gewann Regina Weber als bislang einzige Deutsche eine Medaille. Die Mutter von Fußball-Nationalspieler Leroy Sané wurde Dritte. Letzte deutsche Gymnastin bei Olympischen Spielen war Jana Berezko-Marggrander, die 2012 in London und 2016 in Rio de Janeiro die Ränge 17 beziehungsweise 18 belegte.
Dank Großvater nach Deutschland
Mit dem Gewinn einer Medaille oder gar einem Olympiasieg würde Varfolomeev auch einen außergewöhnlichen Karriereweg krönen. Mit drei Jahren hat sie angefangen, wie ihre Mutter Rhythmische Sportgymnastik zu betreiben. Als Zwölfjährige kam sie zunächst ohne Eltern und ohne die Sprache zu sprechen aus dem westsibirischen Barnaul nach Deutschland.
Dank eines deutschen Großvaters konnte sie die Staatsbürgerschaft wechseln. Inzwischen lebt sie mit ihrem Vater und ihrer Chihuahua-Hündin in Fellbach unweit von Stuttgart. Ihre Mutter ist weiterhin in Russland. «Als sie gekommen ist, hatte sie Potenzial, auf jeden Fall», sagte ihre belarussische Trainerin Raskina, die sie seit ihrer Ankunft in Deutschland in Schmiden betreut.
Als Juniorin sei sie «okay» gewesen, urteilte die 42 Jahre alte Olympia-Zweite im Mehrkampf von Sydney 2000. «Wir haben sie langsam aufgebaut, langsam mit ihr gearbeitet ohne Stress», berichtete die Belarussin, die ihren Schützling als ehrgeizig beschreibt.
Gesicht der deutschen Sportgymnastik
Inzwischen ist Darja Varfolomeev das Gesicht der deutschen Sportgymnastik. Anmutig, graziös und ausdrucksstark hat sie sich an die Weltspitze geturnt und insgesamt sechs WM- und zwei EM-Titel gewonnen. In Paris will sie weitgehend unbelastet von ihren bisherigen Erfolgen auftreten.
«Es ist auf jeden Fall Druck dabei wegen der Weltmeisterschaft im letzten Jahr. Da komme ich halt als Titelverteidigerin zu Olympia. Aber ich glaube, man soll auch ganz viel Spaß haben, weil man nur ein oder zweimal in seinem Leben die Chance hat, bei Olympia teilzunehmen», sagte 17-Jährige, die für Paris mit der Schule ausgesetzt hatte und anschließend noch einmal die 10. Klasse angeht.