Klettern gehörte 2021 in Tokio erstmals zum olympischen Programm. Die Szene diskutiert derzeit über Essstörungen. Foto: Jeff Roberson/AP/dpa

Hungern, bis Periode ausbleibt: Essstörungen im Klettern

München (dpa) – Wenn sich Sportkletterer nur an ihren Fingerkuppen an die schmalen Griffe klammern, kann das Körpergewicht über Sieg und Niederlage entscheiden.

Je dünner, desto besser heißt die ungesunde, in der Kletterszene aber durchaus verbreitete Praxis. Denn wer dünn ist, dessen Muskeln müssen weniger Masse die Wand hinaufziehen. «Um ihr Leistungsoptimum zu erreichen, hungern sich manche Athleten runter. Und der Weltverband IFSC guckt zu», kritisierte Sportmediziner Volker Schöffl vom Klinikum Bamberg im Interview der Deutschen Presse-Agentur.

Schöffl ist Mannschaftsarzt der deutschen Sportkletterer und hatte Anfang Juli aus Protest seinen Rücktritt aus der medizinischen Kommission der IFSC verkündet – und damit eine Debatte über Essstörungen im Klettern ausgelöst. Sein Vorwurf: Der IFSC fehle der Wille, strengere Zugangsregeln zu Weltcups und damit wirkungsvolle Maßnahmen gegen Essstörungen einzuführen.

Wenn am Dienstag die WM in Bern beginnt, steht die Kraxler-Elite im Fokus der Öffentlichkeit. Gewichtsmanagement war schon immer eine Schraube, an der Kletterer gern gedreht haben. «Wir sehen, dass es passiert, aber wir tun nichts dagegen. Seit den Olympischen Spielen in Tokio ist ein Trend unter Athleten erkennbar, dünner sein zu wollen», sagte die slowenische Olympiasiegerin Janja Garnbret und stellte die Frage: «Wollen wir eine neue Kletter-Generation von Skeletten heranziehen?»

«Gefährliches Spiel zwischen Gesundbleiben und Erfolg haben»

Hungern für Gold. Die deutsche Kletterin Käthe Atkins bezeichnete es auf Instagram als «gefährliches Spiel zwischen Gesundbleiben und Erfolg haben». Ein sehr schlanker Athlet ist freilich nicht gleich krank. Trotzdem wirken manche Weltcup-Teilnehmer erschreckend dünn. Beine ohne Muskelmasse oder eingefallene Wangen sind keine Seltenheit an der Steilwand. «Hungern ist gefährlich, weil der Körper aufgrund des Energiedefizits irgendwann keine Leistung mehr erbringen kann», erklärte Schöffl.

Mediziner sprechen vom Energie-Defizit-Syndrom – kurz: RED-S, das durch Kalorienmangel verursacht wird und schwerwiegende Folgen haben kann. «Osteoporose, das Ausbleiben der Monatsblutung, Magersucht oder mentale Probleme», zählte Schöffl als mögliche Konsequenzen auf. «Zwei Jahre ist das Zeitfenster circa, in dem man eine schwere Essstörung einfangen kann. Danach ist eine Therapie relativ aussichtslos».

Klettern hat ein Gewichtsproblem. Da ist sich der Mediziner sicher. In der Weltspitze seien mehrere Athleten, die aufgrund ihres Gesundheitszustands eigentlich nicht starten dürften. Auch unter den deutschen Kaderathleten habe es in den vergangenen Jahren «zwei bis drei» brenzlige Fälle gegeben. Namen nennt Schöffl nicht.

Was den Mediziner besonders ärgert: Die IFSC hätte eine gute Datengrundlage, um RED-S nachzuweisen und strengere Zugangsregeln zu Wettkämpfen umzusetzen. 2022 reisten Schöffl und seine Kollegen zu jedem Weltcup, um Gesundheitswerte der Athleten zu sammeln. «Wir setzten dabei immer noch auf den Body-Mass-Index beziehungsweise den Massenindex. Der Massenindex ist eine Abänderung des Body-Mass-Index, der dünne Sportler bevorzugt, damit sie nicht falsch pathologisch auffallen. Die Gliedmaßenlänge wird noch eingerechnet», erklärte Schöffl.

Stellungnahme von auffälligen Athleten gefordert

Für die Ärzte fungierten diese Werte als Alarmsignal: War ein Athlet auffällig, wurde vom nationalen Verband eine Stellungnahme angefordert. «Diese beinhaltete etwa ein psychiatrisches Gutachten, eine Knochendichtemessung oder ein Herzecho», sagte Schöffl. Bestand nach Einschätzung der Mediziner ein Gesundheitsrisiko für den Kletterer, empfahlen sie ein Startverbot. «Über den Empfehlungsstatus kommen wir aber nicht hinaus. Ein Startverbot muss die IFSC in die Wege leiten», sagte Schöffl.

Doch der Weltverband sträubt sich. Man sei sich des Problems bewusst, teilte ein Sprecher auf dpa-Anfrage mit. Aktuell werde an einer neuen Methode zur Beurteilung des Schwellenwertes geforscht. «Es mag den Anschein haben, dass das Verbot von Athleten, die als zu dünn oder zu leicht gelten, eine einfache Lösung ist. Aber für die IFSC kann das Gewicht allein oder ein einfacher BMI-Parameter nicht die tatsächliche Gesundheit definieren», hieß es. Wann die Untersuchungen abgeschlossen sein sollen, ist offen.

Die immer lauter werdende Kritik von Athleten, Trainern und Ärzten zwingt die IFSC zum Handeln. «Wir brauchen klare Regeln. Jeder, der unter einer kritischen BMI-Grenze ist, muss verwarnt werden. Sollte sich nichts ändern, darf derjenige nicht mehr starten», forderte Olympiasiegerin Garnbret. Auch bei der bevorstehenden WM in Bern wird der Weltverband der Kritik nicht entfliehen können. Im Internet werden T-Shirts angeboten mit dem Aufdruck: «take RED-S seriously!» (Nehmt RED-S ernst!).